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DownloadDie IFRS-Bilanzierung hat heute eine so hohe Komplexität erreicht, dass sich alle großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Spezialabteilungen leisten, die ihre erfahrenen Wirtschaftsprüfer bei der Bilanzierung beraten. Fragt man diese Experten der Experten zum Beispiel nach dem Mehrwert des neuen IFRS 16 Standards, so erntet man als Reaktion Unverständnis: Es gehe doch nicht um den Mehrwert eines Standards, sondern um dessen richtige Umsetzung. Diese Aufgabe sei doch schon schwierig genug. CFOs börsennotierter Unternehmen können diese Einschätzung nur bestätigen: Die Kosten zur Sammlung und Erfassung aller relevanten Leasing- und Mietverträge in neuen EDV-Systemen sind erheblich. Die Freude über den Erkenntnisgewinn für die tägliche Unternehmensführung bleibt hingegen überschaubar. Gleiches gilt z.B. auch für die neuen Anforderungen des IFRS 15. Müssen die Entwicklungen der IFRS-Bilanzierung in den letzten Jahren da nicht als Irrweg entlarvt werden?
Die Einführung der IFRS-Bilanzierung erfolgte vor mehr als 20 Jahren mit dem Ziel, eine Vergleichbarkeit von Unternehmensabschlüssen für kapitalmarktorientierte Unternehmen über Landesgrenzen hinweg zu erreichen. Die Bilanzleser sollten die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens umfassend und transparent aus den Abschlüssen erkennen können. Aus dem einfachen „Vorsichtsprinzip“ einer HGB-Bilanzierung wurde der „True and Fair View“ einer „richtigen“ Bilanz. Aus den wenigen Bilanzierungsregelungen des HGB mit überschaubarer Kommentierung wurde eine Wissenschaft mit dynamischer Weiterentwicklung von Standards und wenigen Superexperten für deren Interpretation.
Natürlich ist das Ziel der Vergleichbarkeit von Bilanzen durchaus erstrebenswert. Daher war auch das Leasingprojekt des IFRS 16 als Konvergenzprojekt von FASB und IASB zu begrüßen. Dass es letztlich nicht zu einem einheitlichen Standard nach IFRS und US-GAAP kam, zeigt aber auch, dass es eine objektive Wahrheit in der Bilanzierung nicht gibt.
Aber handelt es sich bei der Bilanzierung überhaupt um eine Wissenschaft, die durch Forschung und Entwicklung zu immer besseren Ergebnissen führt? Müssen wir uns vorstellen, dass eine Bilanz im Jahr 2019 durch neue Regelungen einfach besser geworden ist als die gleiche Bilanz mit den Vorschriften des Jahres 2017 oder erst recht als eine HGB-Bilanz?
Das Gegenteil ist der Fall. Hierzu sechs Thesen, die insbesondere am Beispiel des IFRS 16 verifiziert werden sollen:
Diese Thesen sollen im folgenden begründet werden.
Die Neuerfassung aller Leasing- und Mietverhältnisse eines international agierenden Unternehmens muss im Rahmen eines Projektes erfolgen. Allein schon die Abfrage und Erfassung der einzelnen Vertragsbeziehungen hat in vielen Unternehmen (trotz bereits vorher bestehender Anforderungen an Anhangsangaben zum Operating Leasing) mehrköpfige Teams über Monate beschäftigt. Für die Verarbeitung der aufgenommenen Verträge war regelmäßig die Anschaffung einer neuen Software erforderlich. Nach der Erfassung der Daten mussten Entscheidungen über die jeweils richtigen Abzinsungsfaktoren getroffen werden. Spätestens an dieser Stelle war die Hinzuziehung eines externen Beraters, meist eines Wirtschaftsprüfers, erforderlich. Sodann musste die Auswirkung der Bilanzierungsänderung einschließlich möglicher latenter Steuerentwicklungen simuliert werden. Weitere mögliche Arbeitsschritte waren die Untersuchung, inwieweit Covenants bestehender Finanzierungsverträge oder andere für das Rating der Gesellschaft relevante Kennzahlen beeinflusst werden.
Für diesen Zeit- und Geldeinsatz haben die Unternehmen eine Datenbank der Miet-, Leasing- und Pachtverträge erhalten. Diese kann zwar im Falle anstehender Due-Diligence-Prüfungen einen praktischen Wert haben, unsere Gespräche mit Wirtschaftsprüfern und Unternehmen haben diesen praktischen Wert bisher aber gerade nicht bestätigt. Grund hierfür ist, dass auch vor Einführung der Standards alle für die Risikoeinschätzung und Drohverlust-Rückstellung relevanten Verträge schon zentral verfügbar sein mussten und bewertet wurden. Insofern stellt die Datenbank regelmäßig ausschließlich die Bilanzierung nach neuer Rechtsnorm sicher. Die Unternehmen selbst ziehen hieraus keinen Nutzen, sondern sie werden durch die immer komplexeren Bilanzierungsregelungen nur belastet.
Für unternehmerische Entscheidungen sind die neuen Regeln weitgehend irrelevant - mit einer Ausnahme: die neuen Standards, die eigentlich das Ziel hatten, Geschäftsmodelle und Geschäftsvorfälle objektiv darzustellen, führen dazu, dass Geschäftsmodelle verändert werden. Die Kosten der Umsetzung von IFRS 15 haben zum Beispiel zu Veränderungen von Geschäftsmodellen in der Telekommunikationsbranche geführt, IFRS 16 wird natürlich Einfluss auf zukünftige Lease or Buy-Entscheidungen haben.
Das Ziel des neuen IFRS 16-Standards war es, eine in Einzelfällen missbräuchliche Off-Balance Bilanzierung zu verhindern, welche durch eine nicht eindeutige Abgrenzung zwischen Operating Leasing und Finanzierungsleasing entstehen kann. Als Beispiel wurde hier die Bilanzierung der Flugzeuge einer Airlinie herangezogen. Allerdings ergeben sich auch im neuen Standard Abgrenzungsnotwendigkeiten („Identifizierbarer Vermögenswert“, Kontrolle über die Nutzung“, „low value assets“, „short term lease“ etc.).
Je komplexer Bilanzierungsrichtlinien sind, desto größer ist der Ermessensspielraum des Bilanzierenden. Bei der Bilanzierung nach IFRS 16 liegen diese Ermessensspielräume neben den Vertragsabgrenzungen zum Beispiel im Bereich der Festlegung von „Grenzfremdkapitalzinssätzen“, der Behandlung von Steuerlatenzen, der Ermittlung der historischen Right-of-Use-Vermögenswerte, der ggf. notwendigen Abgrenzung zwischen Leasing- und Dienstleistungskomponenten der Verträge und der Behandlung von variablen Leasingraten. In anderen Fällen ergeben sich materielle Ermessensspielräume, z.B. bei der Gestaltung von Impairment-Tests (Ermessen bei der Zukunftsprognose und der Festlegung des WACC).
Das Schwierige an solchen Ermessenspielräumen ist der Konflikt des Vorstands, diese möglichst so offensiv zu gestalten, dass Investoren keine materiellen stillen Reserven vermuten, die z.B. im Übernahmefall gehoben werden könnten. Gleichzeitig soll ein Vorstand aber vorsichtig bilanzieren, um jene Bilanzleser zufriedenzustellen, die als Gläubiger (z.B. Banken, Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter) von negativen Überraschungen in Folgeperioden aufgrund einer zu optimistischen Bilanzierung in vergangenen Jahren verschont bleiben wollen.
Denn unabhängig von der Bilanzierungsmethode bleibt die Summe der Ergebnisse über den Lebenszeitraum des Unternehmens immer gleich. Zu optimistische Bilanzierungsansätze in der Vergangenheit führen zu negativen Auswirkungen in der Zukunft. Der Trend zu optimistischen Ermessensentscheidungen erhöht die Volatilität der Jahresergebnisse und führt damit zu höheren Risiken bei der Bilanzanalyse.
Es lässt sich grundsätzlich nicht ausschließen, dass finanzierende Banken durch neue Bilanzierungsstandards einen besseren Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ihrer Kunden erhalten. Zumindest theoretisch besteht hier die Möglichkeit einer intensiven Auswertung von Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung und Anhang. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die Banksachbearbeiter die Auswirkungen neuer IFRS-Standards im Detail nachvollziehen können. Die Änderungen der Bilanzierung erschweren ihnen vielmehr den Vergleich zu Vorjahreszahlen, Budgets und vereinbarten Covenants. Infolgedessen neutralisieren Banken regelmäßig die Auswirkungen von Bilanzierungsänderungen bei der Berechnung der vereinbarten Covenants („frozen GAAP provisions“), was zur Anforderung der parallelen Fortschreibung mehrerer Bilanzierungsstandards im Unternehmen führt.
Andererseits ergeben sich für die Ratingsysteme der Banken, die Kennzahlen wie z.B. Eigenkapitalquoten oder Verschuldungsgrade von Branchen analysieren, durch die Änderungen der Bilanzierungen (wie z.B. die Leasingbilanzierung des IFRS 16) völlig neue Anforderungen. Erfahrungswerte müssen modifiziert, bewährte Entscheidungsparameter neu bewertet werden.
Da die Banken auch vor der Bilanzierungsänderung davon ausgehen durften, dass alle wesentlichen Leasingverträge als Financial Lease und drohende Verluste aus schwebenden Mietverträgen in der Bilanz abgebildet werden, bringen auch ihnen die Bilanzierungsänderungen keinen Mehrwert. Einzelne Ausnahmen (wie im Airline-Beispiel) mag es dabei geben. Hier verfügen die Bankmitarbeiter aber regelmäßig über die nötige Branchenexpertise zur Bewertung der Risiken außerhalb der Bilanzanalyse. Kontinuität und Vergleichbarkeit werden in deren Tätigkeitskreis wesentlich höher geschätzt, als Innovationsfähigkeit ohne erkennbaren inhaltlichen Zugewinn.
Wenn die neuen Bilanzierungsregeln Gläubigern und Geschäftspartnern nicht helfen, sind sie dann zumindest für die Investoren hilfreich? Diese könnten ein Interesse daran haben, für ihre Unternehmensbewertung über noch umfassendere Informationen zu verfügen. Doch auch hier ist man zunehmend von der „Bilanzierungswissenschaft“ genervt. Analysten verfügen über Tools, die ihre Bewertungsmodelle regelmäßig automatisch aktualisieren. Auch Vergleiche zu festgelegten Unternehmen einer Peer Group erfolgen weitgehend automatisch. Die wesentliche Tätigkeit der Analysten liegt dann in der Bewertung der dynamischen Entwicklung von Ertrags- und Liquiditätszahlen. Diese müssen anhand von zugrundeliegenden wirtschaftlichen Trends plausibilisiert und bewertet werden.
Bilanzierungsänderungen behindern diese Analyse. Denn jede Änderung der Bilanzierungs-standards erfordert eine Anpassung der relevanten Tools. So führt IFRS 16 natürlich zu besseren EBITDA-Werten, was leicht als positive Entwicklung der Gesellschaft fehlinterpretiert werden kann. Zudem werden die erforderlichen Zeitreihen durch die Änderungen unterbrochen und müssen neu adjustiert werden. Insbesondere wenn die Bilanzierungsänderungen dazu führen, dass Ertragsentwicklungen und Liquiditätsentwicklungen immer weiter auseinanderfallen, steigt der Aufwand deutlich. Die Bewertungsmodelle beruhen nämlich fast durchgehend auf den Grundlagen der DCF-Bewertung, also dem abgezinsten zukünftigen Cash Flow und nicht dem modifizierten Periodenergebnis, denn der Grundsatz „Profit is someones opinion, cash is cash.“ gilt international.
Analysten-Reports oder eigene vergleichbare Bewertungsmodelle sind für den klassischen Kapitalmarktinvestor regelmäßig die wesentlichste Entscheidungsgrundlage beim Kauf oder Verkauf einer Aktie. Timing ist das entscheidende Thema, wirtschaftliche Chancen und Risiken müssen schnell und täglich neu erkannt werden - und zwar auch dann, wenn gerade kein neuer Quartalsbericht vorliegt.
Natürlich gibt es auch Investoren, die auf der Grundlage einer eigenen Fundamentalanalyse des Unternehmens investieren. Diese sind vielleicht auch bereit, einen 100-seitigen Anhang in Ruhe durchzuarbeiten. Allein: Welcher Entscheidungsmehrwert ergibt sich hierdurch? Führen die Detailinformationen wirklich zu einem besseren Einblick in Bezug auf das Wertpotential einer Gesellschaft? Den Erkenntniswert einer Due-Diligence-Prüfung jedenfalls wird der beste Jahresabschluss nicht kompensieren können.
Bisher hätte wohl niemand bezweifelt, dass Verträge, die als Operating Leasing klassifiziert wurden, in der Unternehmensbewertung über ihren Cash-Flow abgebildet werden. Dies bedeutet, dass z.B. die Mietzahlungen in voller Höhe vor dem EBITDA abgezogen werden. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, Gehaltsaufwendungen zu kapitalisieren, nur weil Mitarbeiter über langfristige Verträge verfügen.
Aufgrund einer gleichen steuerlichen Behandlung ergeben sich auch keine latenten Steuereffekte. Diese Vorgehensweise, die wirtschaftlich sofort eingängig ist, könnte durch den IFRS 16 in Frage gestellt werden. Man könnte zu der Auffassung gelangen, dass solche Verträge (analog zum Finanzierungsleasing) als Zins- und Abschreibungskomponenten erst nach dem EBITDA in die Unternehmensplanung und damit in die DCF- bzw. Multiplikatorenbewertung einbezogen werden sollten. Die korrespondierenden bilanziellen Verbindlichkeiten würden dann als Finanzschulden von einem ermittelten Enterprise Value abgezogen werden müssen.
Schon für die Finanzierungsleasing-Verträge war diese Vorgehensweise in der Praxis umstritten. Nun wird sich diese Diskussion wahrscheinlich auf alle aktivierten Verträge ausweiten.
Die Auswirkungen für die Unternehmensbewertung können dabei in Einzelfällen relevant sein, etwa wenn die für die Ermittlung der bilanziellen Verbindlichkeit herangezogenen Abzinsungsfaktoren erheblich von dem für die Bewertung festgelegten WACC abweichen. Da die Grenzfremdkapitalzinssätze dabei regelmäßig wesentlich geringer sein werden als der WACC, werden die Equity Values durch die neue Betrachtung sinken. Wir haben hier den gleichen Effekt, den wir auch schon bei der Bewertung von Pensionsrückstellungen festgestellt haben (siehe dazu „Offen gesprochen“ vom Februar 2018).
Es ist bedenklich, wenn die Wahl des Bilanzierungsstandards (oder eine Bilanzierungsänderung) einen nennenswerten Einfluss auf den Wert des Unternehmens hat. Mieten sind wie Löhne Aufwendungen, die das Periodenergebnis direkt und parallel zum Cash Flow beeinflussen. Die Laufzeit der Verträge spielt dabei keine Rolle. Wirtschaftlich können lange Miet- oder Pachtverträge sowohl einen Mehrwert für das Unternehmen darstellen (wenn z.B. günstige Konditionen langfristig gesichert werden) oder den Wert belasten (wenn z.B. Verluste aus den Verträgen drohen). Beide Effekte müssen bei der Modellierung des Planungszeitraums berücksichtigt werden, ein grundsätzlich negativer Bewertungseffekt bei langfristigen Verträgen durch die Auf- und Abzinsung von Zahlungsströmen mit unterschiedlichen Zinssätzen kann für die Bewertung hingegen nicht richtig sein. Dennoch wird IFRS 16 zu derartigen Diskussionen führen.
Deutschland ist ganz sicher kein „Kapitalmarkt-Land“. Börsengänge sind im internationalen Vergleich ausgesprochen selten. Familienunternehmen scheuen den Kapitalmarkt, obwohl sie häufig eingestehen, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit durch den limitierten Zugang zum Kapitalmarkt eingeschränkt wird. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind vielfältig. Sehr häufig werden dabei aber auch die hohen regulatorischen Anforderungen und die hohen Aufwendungen im Zusammenhang mit der IFRS-Bilanzierung als Gründe genannt. Regelungen wie IFRS 15 und IFRS 16 sind sicher nicht geeignet, derartigen Bedenken zu zerstreuen.
Die Möglichkeit, Kapitalerhöhungen über Nacht durchzuführen oder gelistete Aktien als Akquisitionswährung zu nutzen, wird in vielen Branchen zu einer Überlebensnotwendigkeit werden. Gerade in Zeiten der Sorge vor dem Ausverkauf der deutschen Schlüsselindustrien an internationale Investoren sollte der Wettbewerbsvorteil eines Listings am Kapitalmarkt (mit den notwendigen Maßnahmen zur Vermeidung feindlicher Übernahmen) nicht leichtfertig verspielt werden.
Insgesamt erscheint die Entwicklung des IFRS-Standards also tatsächlich ein Irrweg zu sein. Bilanzierung ist keine Wissenschaft. Der Versuch, den Buchwert des Eigenkapitals durch Bilanzierungsregelungen an dessen Marktwert anzupassen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieser Versuch ist aber auch nicht erstrebenswert. Die Bilanzierung sollte den Periodenvergleich durch Analyse der Ertragsrechnungen auf der Basis einer realistischen und vorsichtigen Bewertung zum Ziel haben. Die Unternehmensbewertung erfolgt dann in einem zweiten Schritt durch die hierfür entwickelten Methoden. Keinesfalls dürfen die Bilanzierungsregelungen so komplex sein, dass die Adressaten der Abschlüsse deren Erstellungsgrundlagen nicht mehr nachvollziehen können. Superexperten sind dabei ein Hinweis auf Fehlentwicklungen.
Dr. Jens Kruse
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Dr. Roman Rocke
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